Geometrienichtlinearität
Aus ESOCAETWIKIPLUS
engl: geometric nonlinearity Kategorie:
Level 2 Mechanik
Allgemeine Informationen hierzu finden Sie zum Beispiel bei wikipedia:Baustatik
Geometrienichtlinearitäten sind Aufgabenstellungen, bei denen große Verschiebungen und Verdrehungen bei kleinen Dehnungen zu berücksichtigen sind. Das ist zum Beispiel typisch für Seile, Balken und Membranen. Vielfach reicht es aus, die Stabilität dieser Anordnungen zu untersuchen.
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Simulation
Wenn bei einem Bauteil die Verschiebungen einen Einfluss auf das Tragverhalten des Bauteils haben, dann wird das als Geometrienichtlinearität oder große Verschiebungen bezeichnet.
In der nebenstehenden Skizze ist ein schlanker senkrechter Balken zu sehen. Unter der Einwirkung der oben quer wirkenden Last biegt sich der Stab zur Seite. Zunächst kann man annehmen, dass die Balkenspitze auf der gleichen Höhe bleibt. Bei größeren Verschiebungen muss aber berücksichtigt werden, dass die Balkenspitze sich auch nach unten verschiebt. Die Verschiebung quer hat einen Einfluss auf die vertikale Position der Balkenspitze.
In der unten gezeigten Skizze ist ein schlanker senkrechter Turm einer Windkraftanlage zu sehen. Hier besteht eine Abhängigkeit von (auch nur kleinen) Verschiebungen zur Seite, denn dann rückt auch die Kraft zur Seite, es entsteht zusätzlich zur Kraft ein Biegemoment.
Bei der numerischen Simulation wird das Gleichgewicht am verformten System berechnet. Es wird also zunächst mit der Ausgangslage gerechnet, die Verschiebungen werden im Simulationsmodell eingesetzt und für diese Anordnung das Gleichgewicht berechnet. Wenn ein Ungleichgewicht besteht (also eine nennenswerte Differenz zwischen den inneren und den äußeren Lasten), dann wird das verformte System nochmals berechnet. Eine solche Folge von Wiederholungen der Berechnung wird Gleichgewichtsiteration (equilibrium iteration) genannt.
Grundlagen
Im Bauwesen wird von Theorie 2. Ordnung gesprochen, wenn die Geometrienichtlinearität berücksichtigt wird. Damit werden auch Einflüsse erfasst, die die Stabilität des Bauwerks gefährden. Die Bezeichnung der Theorie 2. Ordnung hat damit zu tun, dass die Winkelfunktionen nur durch Terme bis zur 2. Ordnung einer Taylor-Reihenentwicklung berücksichtigt werden (bei der Anwendung von Energiemethoden). Theorie 2. Ordnung ist damit nur eine einfache Form der Geometrienichtlinearität, nicht jedoch ein gleichwertiger Begriff. Ein gleichwertiger Begriff zu Theorie 2. Ordnung ist eher durch stress stiffening gegeben.
Bei der numerischen Simulation erfolgt die Berücksichtigung von Geometrienichtlinearität durch eine Matrix, die nach der Lösung als Spannungs-Steifigkeits- oder Geometrie-Steifigkeits-Matrix gerechnet wird. In anschließenden Iterationen wird diese Matrix zusätzlich zur Gesamt-Steifigkeitsmatrix bei den folgenden Lösungen berücksichtigt.
In der Rotordynamik wird berücksichtigt, dass eine Rotation von drehenden Bauteilen zu Spannungen führt. In diesem Fall sind die Spannungen von der Drehzahl Ω abhängig. In diesem Fall ist in der Simulation bei der Berücksichtigung der Spannungsversteifung der zusätzliche Anteil der Steifigkeitsmatrix über die Spannungen von der Drehzahl abhängig:
Beispiele
Prinzip-Beispiel: Balken mit Last am Ende
In der Abbildung rechts ist eine Prinzip-Simulation gezeigt. Ein schlanker Balken ist an seinem linken Ende fest eingespannt und am rechten Ende mit einer Kraft nach unten belastet. Das FEM-Modell ist 2-dimensional.
Die lineare Simulation ergibt eine Verformung nach unten. Das ist zu erwarten und plausibel. Nicht plausibel ist dabei aber, dass das rechte Ende des Balkens geradlinig nach unten verschoben ist. Dadurch ist der Balken länger geworden. Auch die Breite nimmt zu. Das ist ein direktes lineares Ergebnis, das für kleine Verformungen akzeptabel wäre. Bei den relativ großen Verformungen wird dies deutlich erkennbar. Das Ergebnis ist fragwürdig. Die Annahme für diese Berechnung - dass die Verformungen gering bleiben und keine großen Verformungen auftreten - ist zu revidieren.
Die nichtlineare Simulation erfordert einige Gleichgewichtsiterationen. Als Ergebnis sieht man, dass das rechte Ende des Balkens nach unten und gleichzeitig nach links verschoben ist.
Prinzip-Beispiel: Balken mit verteilter Last
Dieses Beispiel des Biegebalkens ist hier rechts mit einer flächigen Last gezeigt. Dies entspricht einem Druck in einem 3-dimensionalen Modell. Die Richtung der Drucklast wird durch die Simulation der Geometrienichtlinearität automatisch der verformten Oberfläche nachgeführt (follower force). Bei einer entsprechend hohen Last kann man damit erreichen, dass der Balken wie eine Spirale umgebogen wird und die Drucklast dieser Verformung folgt, also an der Oberfläche weiterhin jeweils senkrecht auf der Fläche wirksam bleibt.
Prinzip-Beispiel: Balken mit verteilter Last unter Vorspannung
Hier rechts ist ein Biegebalken mit einer flächig verteilten Last gezeigt. Die Simulation wird mit 2 Lastfällen durchgeführt:
- in Lastfall 1 wird eine geringe Zugkraft in Längsrichtung des Balkens aufgebracht, in der Abbildung ist dies an einer geringen Verschiebung des rechten Endes nach rechts zu erkennen, und
- in Lastfall 2 wird quer zum Balken die verteilte Last aufgebracht.
Die lineare Simulation (linkes Teilbild) zeigt die resultierenden Verschiebungen und den Maximalwert von uy = 24.295.
Die nichtlineare Simulation unter Berücksichtigung der Geometrienichtlinearität (rechtes Teilbild) zeigt die deutlich geringere Verschiebungen und den Maximalwert von uy = 5.628.
Turm einer Windkraftanlage
Als Beispiel wird der schlanke Turm einer Windkraftanlage verwendet. Hier ist die Belastung des Turmes durch das Gewicht des Maschinenhauses an der Spitze des Turms skizziert. Wenn zusätzlich eine Quer-Auslenkung des Turmes auftritt - zum Beispiel durch etwas Wind von der Seite - , dann wirkt die Längskraft mit einem Abstand vom Fußpunkt und erzeugt dadurch ein Biegemoment. Die Verschiebung quer hat also einen Einfluss auf das Biegemoment. Die Geometrienichtlinearität ist bereits dadurch gegeben, dass die Last von der Verschiebung abhängt und sich der Kraft-Angriffspunkt verschiebt (und damit die Wirkungslinie). In anderen Fällen kann sich außer dem Kraft-Angriffspunkt auch die Wirkungsrichtung ändern (zum Beispiel bei Druckbelastung). Solche Lasten, die der Verdrehung folgen, werden auch follower forces genannt.
Dieses Beispiel zeigt eine Geometrienichtlinearität, bei der auch große Verdrehungen eine Rolle spielen. Wenn man Theorie 2. Ordnung anwenden würde, bliebe der Angriffspunkt der Kraft auf gleicher Höhe, lediglich das Moment aus der seitlich verschobenen vertikalen Kraft würde berücksichtigt. Es bliebe dabei der Einfluss der Verformung auf die Längsspannung unberücksichtigt.
Aus der Praxis
Was sind große Verschiebungen in der technischen Praxis? Als Anhaltspunkt kann dienen:
- große Verschiebungen liegen dann vor, wenn die Verschiebungen etwa die Größenordnung der Wanddicke des Bauteils erreichen.
Technische Regelwerke lassen vielfach offen, wann genau die zusätzlichen Einflüsse von großen Verschiebungen zu berücksichtigen sind. Im Bauwesen (EC3, DIN 18800) ist die Theorie II. Ordnung zu berücksichtigen, wenn die Verformungen dadurch um mehr als 10% zunehmen.
Selbststudium
In dem Artikel Nichtlinearitäten in der strukturmechanischen FEM-Berechnung (CADFEM Journal/Infoplaner 2010-1, Seite 48-51) wird ein Überblick über die Grundlagen gegeben.
Sonstige Begriffe
Sonstige Begriffe der Geometrienichtlinearitäten sind Große Verdrehungen, Große Dehnungen.
Die Stabilitätsanalyse eines Bauteils kann durch
- eine Berechnung mit Geometrienichtlinearität oder
- eine Beulanalyse
erfolgen.
Literatur
Zusätzlich finden Sie hier die Veröffentlichung W.Rust "Nichtlinearitäten in der strukturmechanischen FEM-Berechnung" (2009), die weiter ins Detail geht.